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24.09.2024

US-Wahl: Letzter Weckruf für Europa!

Die neue Ausgabe der Lupus alpha Kolumne leitwolfs view

Mit der Kandidatur von Kamala Harris ist das Rennen um die Präsidentschaft wieder offen. Die US-Wahl Anfang November ist so noch stärker in den Fokus von Gesellschaft, Wirtschaft und Börse gerückt – auch in Europa. Denn eines ist gewiss: Was jenseits des Atlantiks ohne unser Zutun entschieden wird, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Auswirkungen auf unser Leben haben. Dem können wir uns als Europäer ergeben. Oder wir fangen endlich an zu handeln. Höchste Zeit für einen 10-Punkte-Plan für mehr Unabhängigkeit.

von Ralf Lochmüller, Gründungspartner und CEO von Lupus alpha

Dass Europa mehr Verantwortung für die eigene Sicherheit übernehmen muss, fordern die USA schon lange. Auch von der Bundesregierung und der EU selbst ist diese Forderung seit Beginn des Ukrainekriegs immer wieder zu hören. Passiert ist allerdings bisher wenig. Man hat den Eindruck, dass Europa wie das Kaninchen vor der Schlange auf die Entwicklungen in den USA blickt – und insgeheim hofft, dass alles beim Alten bleibt.

Was aber muss noch passieren, damit wir unsere Komfortzone in Sachen Sicherheit verlassen? Was muss passieren, bis wir endlich eigenständig werden und nicht mehr auf die amerikanischen Entscheidungen warten? Was muss passieren, damit wir endlich unsere Hausaufgaben machen, und das nicht nur im Bereich der eigenen Verteidigung, sondern auch in so wichtigen Bereichen wie einer gemeinsamen Innovationsförderung, Migration oder Infrastruktur?

Es geht um mehr als um unsere Verteidigung

Ich bin wirklich ein überzeugter Europäer. Mir hat das Herz geblutet, als Großbritannien aus der EU ausgetreten ist. Und mir blutet das Herz, wenn ich sehe, wie die Errungenschaften Europas – politische Stabilität und dauerhafter Frieden, Freizügigkeitsrechte für alle EU-Bürger, vermehrter Wohlstand etc. – so wenig Wertschätzung finden wie derzeit. Aber angesichts der endlosen Diskussionen und langwierigen Entscheidungsprozesse in den EU-Gremien, die oft in einen (faulen wie bürokratischen) Kompromiss münden, kann man den Glauben an Europa schon mal verlieren.

Es ist nicht zu leugnen: Die EU befindet sich in einer strukturellen und ideellen Krise. Und der Reformbedarf ist enorm. Die zehn dringendsten Maßnahmen, die meines Erachtens JETZT angegangen werden müssen, habe ich Ihnen im Folgenden zusammengestellt:

10-Punkte-Plan für ein unabhängiges und handlungsfähiges Europa

  1. EU-Institutionen reformieren. Die Entscheidungsprozesse auf EU-Ebene müssen dringend effizienter gestaltet werden. Bevor man über eine Erweiterung der EU nachdenkt, sollte man zunächst das Einstimmigkeitsprinzip, das Entscheidungsfindungen oft in die Länge zieht, abschaffen und durch eine qualifizierte Mehrheit ersetzen. Und brauchen wir wirklich 27 Kommissare im Kabinett der EU-Kommission?
  2. Verteidigungsunion aufbauen. Um die militärische Unabhängigkeit in Europa zu stärken, müssen die Mitgliedsstaaten abgestimmt für Europa eintreten und handeln, ihre Verteidigungsausgaben weiter erhöhen und Waffeneinkäufe verstärkt bei europäischen Rüstungskonzernen vornehmen. Derzeit fließen knapp 80 Prozent der Mittel für die Beschaffung von Rüstungsgütern in Länder außerhalb der EU, allein 60 Prozent in die USA.
  3. Migrationsdruck verringern. Das im Frühjahr nach endlosen Diskussionen endlich verabschiedete Gesetz zur EU-Asylreform sieht zwar eine deutliche Verschärfung der Bestimmungen vor, darunter einheitliche Verfahren an den Außengrenzen sowie einen verbesserten Verteilungsmechanismus. Diese Maßnahmen müssen aber auch schnell umgesetzt werden. Tatsache ist: Solange die EU ihre Außengrenzen nicht schützen kann, werden Mitgliedsländer wie Deutschland ihre Grenzen stärker kontrollieren müssen.
  4. Europäische Werte und Interessen vertreten. Es ist nicht zu übersehen: Viele unserer internationalen Handelspartner teilen nicht unsere Vorstellungen von Werten und Freiheit. Unsere Werte sollten wir dennoch selbstbewusst nach außen verteidigen, allerdings ohne alle Welt damit zu missionieren. Außenpolitik ist Interessenpolitik. Wir müssen uns daran gewöhnen, Handel auch mit den Staaten zu betreiben, deren Werte wir nicht teilen.
  5. "Europa First" etablieren. Protektionismus und Strafzölle, wie Trump sie anstrebt, sind keine Option. Jedoch sollte Europa die heimische Produktion stärken und die Abhängigkeiten von Ländern wie China, Russland oder den USA weiter verringern. So können externe Schocks wie die Corona-Pandemie, der Ukrainekrieg oder eine potenzielle Taiwan-Krise nicht so stark auf unsere Wirtschaft durchschlagen.
  6. Energieeffizienz fördern. Um Klimaneutralität in Europa zu erreichen, muss vor allem die Energieeffizienz von Gebäuden verbessert werden. Auf Gebäude entfallen rund 40 Prozentdes Energieverbrauchs der EU, mehr als die Hälfte des Gasverbrauchs und 35 Prozent der energiebedingten Treibhausgasemissionen. Der Handlungsbedarf ist groß: Derzeit sind etwa 35 Prozent der Gebäude in der EU älter als 50 Jahre und fast 75 Prozent ineffizient.
  7. Mit Augenmaß regulieren. Wir sind zu Recht stolz auf die hohen Qualitätsstandards unserer Produkte. Allerdings braucht niemand EU-Vorgaben für fest verbundene Deckel an Plastikflaschen! Wir sind Regulierungsweltmeister im Datenschutz, hatten das weltweit erste KI-Gesetz (aber keine eigene KI-Technologie...). Die EU muss höllisch aufpassen, dass sie Innovationen mit ihrem Regulierungswahn nicht von vornherein abwürgt oder unseren Unternehmen unnötige Wettbewerbsnachteile beschert. Regulierung ja, aber mit Augenmaß.
  8. Kapitalmarktunion vollenden. Besser integrierte Kapitalmärkte sind dringend nötig, um jungen Unternehmen den Zugang zu Kapitalmarktfinanzierungen zu erleichtern. Ohne privates Kapital können diese nur schwer in Zukunftsfelder investieren. Die Pläne zur Kapitalmarktunion stecken jedoch fest, weil keine Einigung unter den 27 Mitgliedstaaten erzielt werden kann. Statt weiter langwierig zu diskutieren, sollte der Vorschlag von Frankreich, eine Kapitalmarktunion im kleineren Kreis, erwogen werden.
  9. Grenzüberschreitende Infrastruktur ausbauen. Auch hier gibt es noch viel zu tun – für eine funktionierende digitale Infrastruktur, für den Transport von erneuerbarem Strom und Wasserstoff sowie für ein gut ausgebautes Schienennetz in Europa. Wobei sich vor allem Deutschland an die Nase fassen muss: Bei den Breitband-Internetzugängen liegen wir im hinteren Mittelfeld (nach Ländern wie Slowenien, Malta oder Litauen) und bei Investitionen in das Schienennetz in der Schlussgruppe...
  10. Innovationen in Schlüsseltechnologien fördern. Europa spielt technologisch schon lange nicht mehr in der ersten Liga. Die zahlreichen Initiativen, wie der EU Chips Act, der Green Deal Industrial Plan oder die European Tech Champions Initiative, sind anlassbezogen und wenig systematisch. Wenn wir technologisch noch eine Rolle spielen wollen, müssen Forschung und Entwicklung sowie ausreichende Mittel auf EU-Ebene schlagkräftig gebündelt werden.

 

Durch die realistische Brille betrachtet: Das alles wird nicht von heute auf morgen geschehen, so ehrlich muss man sein. Müssen wir uns Sorgen machen? Als politisch denkender Bürger – ja. Denn unabhängig davon, wer die US-Wahl im November gewinnt: Der Wind für uns Europäer wird in Zukunft deutlich rauer aus Westen wehen.

Und als Anleger? Nein. Regierungen kommen und gehen. Die Implikationen einer Harris- oder Trump-Regierung mögen für die einzelnen Wirtschaftssektoren unterschiedlich sein. Auf die Aktienmärkte insgesamt dürfte sich das Ergebnis eher wenig auswirken. Schwer vorherzusagen sind die Auswirkungen auch deshalb, weil sich die wirtschaftspolitischen Pläne der überlegenen Partei bei dem nicht unwahrscheinlichen Szenario eines gesplitteten Kongresses ohnehin nur begrenzt umsetzen lassen werden.

Anleger sollten sich von politischen Ereignissen daher nicht in ihrer strategischen Asset Allocation und Anlagestrategie beeinflussen lassen. Auch nicht von der bevorstehenden US-Wahl.

Was sollte Europa Ihrer Meinung nach für mehr Souveränität tun?

Ich freue mich über Ihren Kommentar an leitwolfsview@lupusalpha.de.

 

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